Okay, jetzt haben alle noch mal drüber geschlafen und die meisten haben sich auch wieder beruhigt, aber beschäftigen wird uns und die Footballwelt diese Entscheidung noch lange Zeit. Nach der Immaculate Reception, The Catch, dem Tuck-Rule-Game, The Drive und dem Music City Miracle haben wir jetzt The Call.

Vielleicht habens einige ja schon gehört, im Lucas Oil Field zu Indianapolis hat sich am Sonntag folgendes zugetragen: bei einem 4th-and-2 an der eigenen 28-yard-Linie entscheidet sich New Englands head coach Bill Belichick mit einer 34-28-Führung im Rücken gegen den Punt und läßt seine offense zurück aufs Feld, um ein 1st-Down zu erringen. Snap, Brady drops back, schneller Paß auf die rechte Seite zu Kevin Faulk, catch. Verwirrung. Wie so oft: it depends on the spot. (Der war fragwürdig, weiter unten mehr dazu.) Turnover on Downs, Indy kriegt den Ball. Manning führt seine Colts die 29 yards in die Endzone und damit zum Sieg.

Absolut unkonventionelle und überraschende Entscheidung, sowas hat noch niemand gemacht. Kriegt Faulk den ersten Versuch, ist Belichick das Genie; kriegt Peyton Manning den Ball an der Patriots 29 und macht dann den Touchdown, ist er der größte Idiot, der jemals Trainer bei einem Footballspiel war. Wir wissen jetzt wie es ausgegangen ist und so waren auch die Kommentare und Reaktionen aus den Sportredaktionen des Landes am Montag vernichtend.

Belichick hat die Wahrscheinlichkeiten gespielt, daß wurde von vielen klugen Menschen dann im Laufe des Montags auch ausgerechnet, präsentiert und so die Entscheidung verteidigt und mit weiteren Fakten unterlegt.

Und sonderlich überraschend dürfte die Entscheidung auch nicht gewesen sein. Belichick ist bekannt für sein aggressives play-calling und dafür, daß er überdurchschnittlich oft den vierten Versuch ausspielen läßt. Auch in dieser Saison schon.

In Woche 3 gegen die Falcons. Beim Stand von 16-10 hat New England einen 4th-and-1 an der eigenen 24 – versucht es und kriegt den 1st down. Einige Spielzüge später an der 37-yard-Linie der Falcons gehen sie wieder beim vierten Versuch und verwandeln wieder. Vor allem der erste vierte Versuch war gegen alle althergebrachten Konventionen. Schaffen sie es nicht, kriegt Atlanta den Ball tief in der Hälfte der Patriots; eben noch mit dem Rücken zur Wand, dann im Vorwärtsgang in aussichtsreicher Position – momentum shift. Aber Belichick und die Patriots haben aggressiv versucht das Spiel zu gewinnen; während die meisten anderen nur versuchen, das Spiel nicht zu verlieren.

Und nur eine Woche vorher hat Belichick eine noch viel aggressivere Entscheidung getroffen, die aber kaum jemand bemerkt hat. Viertes Viertel, es steht 24-17 im Spiel gegen die Dolphins, noch 1:14 zu spielen, 4th-and-1 für New England an Miamis 18. Statt ein relative sicheres 35-yard-FG zu versuchen und auf die 10-Punkte-Führung zu spielen, will Belichick das Spiel ganz sicher gewinnen und den Dolphins gar nicht erst den Ball zurückgeben. (Hallo Buccaneers, ist es eine gute Idee, den `Fins mit 1:14 Minuten den Ball zurückzugeben?) Nicht weiter beachtet wurde diese Entscheidung, weil RG Stephen Neal ein false-start-penalty angedingelt wurde und damit der 4th-and-1 dahin war. Aber auch da wars wieder deutlich: Belichick will ein Spiel gewinnen und nicht herkömmlich konservativ versuchen, das Spiel nicht zu verlieren.

Warum macht er das? Weil er die Wahrscheinlichkeiten auf seiner Seite hat. Woher er die hat und auf welcher Grundlage er sich damit auseinandersetzt, beschreibt Christopher Price hier sehr schön. Sogar die Ökonomen vom bekannten NYT-blog Freakonomics weisen nochmal darauf hin und feiern Belichick.

Um auf das Colts-Spiel zurückzukommen, darf man nicht vergessen, daß auf der anderen Seite nicht irgendein guter Quarterback stand, sondern Peyton Manning. Der beste 2-minute-drive-QB seiner Generation, wenn nicht sogar aller Zeiten. Jon „Chuckie die Mörderpuppe“ Gruden hat beim Monday Night Game nochmal ausdrücklich drauf hingewiesen: „This is the guy right here – I told you his name is The Sheriff, he always gets his man. And when you have Tom Brady against Peyton Manning, it’s gonna come down to those two quarterbacks. This guy right here, I don’t care how good you play defense, Jaws, that guy is the best I’ve ever seen.“ „If you give Peyton Manning the ball and let him play with four downs, that’s a big difference from giving him three downs. (Vier Versuche weil Indy wegen des Rückstandes nicht mehr punten würde) In Tampa, we had a 35-14 lead on Manning with five minutes left, and he beat us. So two minutes, one timeout, four downs … that’s an eternity for Peyton Manning.“ Gruden trifft den Nagel auf den Kopf.

Es war eine mutige Entscheidung, weil sie gegen die herkömmlichen Konventionen verstoßen hat. Es war aber trotzdem die richtige Entscheidung, weil die Wahrscheinlichkeit, den vierten Versuch zu verwandeln, größer war als die Wahrscheinlichkeit, Peyton Manning (und vorher den punt return, der scheint meistens vergessen zu werden) zu stoppen.

Viel entscheidender waren zwei andere calls, nämlich calls der Schiedsrichter. Die Zebras haben im vorletzten drive der Colts eine lächerliche Pass-Interference-Strafe gegen Darius Butler gepfiffen – für 31 yards! Erstens geschenkte 31 yards, das spart schonmal Zeit und die Uhr wird angehalten, eine geschenkte Auszeit für Indy bei 3:03. Die andere Entscheidung war der spot bei dem catch von Faulk bei vierten Versuch. Ja, Faulk fängt den Ball nicht sofort an der 31, aber spätestens an der 30 hat er ihn sicher. Man muß sich als Fernsehzuschauer hier übrigens auch nicht von der eingeblendeten gelben Linie irritieren lassen; der letzte Zipfel der 30-yard-Linie reicht Faulk, weil der 1st down ganz genau an der 20-yard-Linie war infolge des touchbacks beim vorhergegangen kickoff von Indy. Und mit dem spot kommen wir zu den Fehlern der Patriots.

Fehler hat auch Belly im vierten Viertel gemacht, und zwar sehr un-Patriots-mäßige. Der letzte Patriots drive beginnt bei noch verbleibenden 2:28 und noch bevor der erste Versuch ausgespielt wird, nimmt New England eine Auszeit. Das ist richtig schlecht. Und nach dem dritten Versuch – bei 2:08, die Uhr steht – nehmen die Pats noch eine, ihre letzte, Auszeit. Warum? Ich kann mir nicht vorstellen, daß Belichick vorher noch nie drüber nachgedacht, diese Entscheidung in dieser Situation zu treffen. Er hat vorher drüber nachgedacht, davon ist auch Charlie Weis, jetzt Cheftrainer von Notre Dame, vorher OC bei New England, überzeugt. Zwei furchtbare Timeouts. Erstens konnte Belichick so nicht den spot beim vierten Versuch überprüfen lassen und zweitens hätte Manning im letzten drive auch gar nicht die Uhr kontrollieren können, wenn die Pats bei einem zweiten oder dritten Versuch noch Auszeiten gehabt hätten. Die dritte Auszeit hat New England schon im dritten Viertel, bei noch 12:46 zu spielen bei einem 1st Down genommen. Das ist ganz mieses clock-management in der zweiten Halbzeit gewesen, dafür sollte man Belly auseinandernehmen.

Nicht zu vergessen der fumble von Laurence Maroney an Indys 1-yard-Linie Ende des dritten Viertels, das wären mindestens 3, wenn nicht gar 7 Punkte gewesen – verliert Maroney den Ball nicht, Game Over.

Quintessenz: mit der mutigen und richtigen Entscheidung, die dann aber nicht belohnt wurde und mit dem riesigen Buhei und Kritik, die über Belichick ausgeschüttet wurde, werden die coaches, die nicht so fest im Sattel sitzen wie Belly – also alle anderen, mit Ausnahme vielleicht von Dolphins coach Tony Sparano, der Rückdendeckung von Bill Parcells hat – eher wieder konservativere Entscheidungen treffen. Und das muß man bedauern, denn so wird die Liga ein Stück langweiliger.

Update: Fast vergessen, aber hier sollen die deutschsprachigen Beobachter nicht unerwähnt bleiben: während AllesAußerSport auf der Anti-Belichick-Seite steht, goutiert Jürgen Kalwa mit guten Argumenten Belichicks Entscheidung.